Der Zug der nicht abfährt

Dies ist kein Artikel, der einen Anfang, eine Mitte und ein gut überlegtes Ende hat. Es gibt keinen Rat. Kein Resümee. Dies ist eine Geschichte ohne Ende. Das liegt daran, dass ich mit meinem Lernen darüber noch nicht fertig bin. Ich komme mir zur Zeit vor, als würde ich in einem Zug sitzen, der nicht abfährt. Wenn ich durch das Fenster auf den Bahnhof schaue, dann sehe ich wie jeder weiß, wo er hin will; zielbewusst, mit Gepäck, mit einem Plan, mit einer Fahrkarte an mir vorbei läuft.
Doch ich, ich sitze im Zug. In einem Zug, der sich immer noch nicht bewegt. Der immer noch kein Ziel hat. Ein paar Mal bin ich ausgestiegen, um zu sehen, ob ich denn überhaupt im richtigen Zug sitze. Doch da steht, eindeutig: Sabrina Fox. Fahrplan: Seele. Zeit: Jetzt.

Dann gehe ich zurück in meinen Zug. Manchmal Zähne knirschend, manchmal lachend, manchmal genervt. Aber immer ein wenig neidisch, wenn ich die Anderen anschaue, die weiterhin an mir vorbeiziehen. Sie wissen, wo sie hinfahren. Sie kennen ihr Ziel. Sie sind auf dem Weg. Ich dagegen kenne mein Ziel nicht und so betrachte ich ungeduldig die Züge, die neben mir ankommen und wieder abfahren. Nur meiner, so scheint es, bewegt sich nicht.

Ein, zwei Mal bin ich in den letzten Monaten kurz ausgestiegen und mir ging es sofort besser. Ich wusste genau was zu tun war: Irgendein Projekt nehmen, eines, das ein Ziel hat oder einfach da weitermachen, wo ich vor ein paar Monaten aufgehört hatte. Einfach weiterhin Vorträge halten. Einfach wieder Ja zu Angeboten sagen. Doch dieser verdammte Zug will kein Ja mehr hören.
Meine Seele wollte, dass er steht und weil ich mich vor Jahren meinem inneren Wachstum verpflichtet habe, musste ich ihn anhalten. Und da steht er nun, mit 54 Jahren und bewegt sich nicht.

Schieben hilft nichts, das habe ich probiert. Weglaufen bringt auch nichts, dazu weiß ich zu viel. Ich weiß sämtliche Erklärungen auswendig. Schließlich habe ich sie oft genug gelehrt. Oft genug erklärt. Oft genug mir selbst vorgebetet. Das ist auch nicht meine erste Erfahrung darin. Aber die Intensivste. Ich hatte mich bisher nicht so komplett darauf eingelassen, im Jetzt zu sein. Was aber, wenn das Jetzt mich eines Zieles beraubt? Was, wenn nie wieder eines kommt? Was, wenn ich meine Begeisterung für das Leben verloren habe? Wenn ich mich auf die Stille in meinem Zug einlasse, dann spüre ich die beiden Frauen, die mit mir reisen. Zwei Frauen, die ich erst vor ein paar Monaten wahrgenommen habe. Eine ist meine Vorfahrin. Meine Ahnin. Sie zeigt sich mir nur mit ihrem Kind unter dem Arm, dass sie nach vorne schleudert, weil sie es besser haben soll. Sie ist damals, als Erste, als Ursprung meiner menschlichen DNA, aus einer Höhle gekrochen und wollte raus. Sie hat mir ihren Vorwärtsdrang vermacht. Sie ist es, die mich schubst, die keine Ruhe gibt, bis ich weiter mache. Ich bin ihr dankbar, denn ohne sie wäre ich nicht aus der Enge meines Elternhauses gekommen. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft, weiter vorauszugehen, Grenzen zu überwinden und doch ist es auch mühsam mit ihr. Sie drängt eben nicht manchmal – nur dann, wenn es notwendig und wichtig ist – sondern sie drängt IMMER. Sie will, dass ich weiter vorwärts gehe. Sie kennt keine Pausen. Sie kennt kein Innehalten. Innehalten ist für sie das Ende. Ich erspüre sie als jemanden, der nie mit dem jetzigen Moment zufrieden sein kann. Sie denkt immer an morgen. Immer an das Nächste. Weiter! Komm! Mach! Ihre Forderungen kommen mit Ausrufezeichen und in diesem Zug, der nicht abfährt, wird sie verrückt.

Gott sei Dank sitzt noch jemand anderer in diesem Zug: Eine alte, weise Frau. Sie sieht mir ähnlich, denn sie ist – wie meine Vorfahrin – ich. Sie ist ich, am Ende dieses Lebens. Die hat die Erfahrungen schon gemacht, die mir noch bevorstehen. Sie hat viel erlebt, in dem zweiten Teil meines Lebens. Sei hat liebste Mitmenschen verabschiedet, manche hat sie auf dem Weg nach Hause betreut, manche sind in ihren ihrem Armen gestorben, und mit jedem Abschied starb auch eine Erinnerung. Sie hat Abschiednehmen gelernt und einiges andere. SIE hat gelernt im Jetzt zu leben. Sie schmunzelt, wenn sie sieht, wie ich darauf warte, dass wir abfahren. Sie hat es nicht eilig. Sie weiß, wo wir landen werden. Hier bei ihr. In dieser wunderbaren Innigkeit. Und ich weiß es auch. Und doch, ich – im meinem Jetzt – habe so meine Schwierigkeiten mich auf ihre Ruhe in meinem Zug einlassen. Sie sitzt, mit einem Bein angewinkelt, mir meistens gegenüber.Manchmal sitze ich auch in ihr. Dann spüre ich sie. Spüre ihre Leichtigkeit. Ihre Weisheit. Und wenn ich mich mit ihr ganz verbunden habe – wir uns ineinander auflösen, wenn Zeit und Raum nicht mehr existieren – wenn alles in mir langsamer wird, dann empfinde ich ihre Glückseligkeit. Und dann wundere ich mich, warum ich mich denn in diesem heutigen Moment so verwirren lasse. Immerhin sitze ich in einem Zug. Es regnet nicht herein. Mir ist nicht kalt. Er ist bequem. Ich bin in Gesellschaft und fühle mich mit beiden Frauen so inniglich vertraut: Die eine, die drängt und die andere, die entspannt lebt und beide gilt es zu verbinden: Die Weisheit der Einen mit der Kraft der Anderen.

Ich habe mir eine Kette machen lassen: Auf der einen Seite ein Bild von mir als Vorfahrin, auf der anderen eines als alte, weise Frau. Das trage ich um den Hals, um mich daran zu erinnern, beides zu verbinden. Es gelingt mir nicht wirklich. Ich bin auf der Suche nach irgendetwas, das diesen Zug zum fahren bewegt. Vielleicht eine Übung? Ein Ritual? Eine Hausaufgabe? Eine davon war folgende:
„Mache eine Liste und schreibe alles auf, was dich vielleicht interessieren würde, was du vielleicht machen möchtest, was dir vielleicht Spaß machen würde. Betrachte das von der Ego-Seite, von der Persönlichkeit aus. Lass dir Zeit damit. Lese dir die Liste in Ruhe durch und streiche aus, was du bei näherer Betrachtung doch nicht machen
möchtest.“

Das erste, was auf dieser Liste stand, war ein Kind zu adoptieren. Das war ein Wunsch, den ich früher einmal hatte und der nicht erfüllt wurde, weil mein damaliger Partner das nicht wollte. Mein Jetziger umarmte mich und meinte, dass ich seine erwachsenen Kinder doch schon adoptiert hätte. Ich strich es durch. Meine Liste war lang. Die Hälfte davon habe ich
durchgestrichten. Die andere Hälfte ist noch da. Beim Durchstreichen passiert folgendes: Wir informieren unser Feld, also unsere Aura darüber, dass sich bestimmte Dinge erledigt haben. Vielleicht haben wir uns vor Jahren überlegt, Kinder zu adoptieren? Vielleicht wollten wir ein Seminarhaus aufmachen? Vielleicht auswandern? Doch unser Leben hat sich anders entwickelt und diese „man-müsste-doch-Gedanken“ halten uns noch fest. Immer wieder stelle ich fest, dass ich nicht die Einzige bin, die sich überlegt, was wir mit dem Rest unseres Lebens anstellen wollen. Da gibt es noch die Kommune, die irgendwann einmal gegründet werden will. Ein gemeinsames Dorf, eine Vision, ein Miteinander, in der auch die Stille, die Individualität, das Wohlfühlen, das Reisen gelebt sein darf. In der die Kunst, der Austausch, der Spaß, die Weite eine Rolle spielen dürfen. Ist das jetzt die Zeit dafür, frage ich mich, in meinem Zug, der sich nicht bewegt? Heute las ich von verlassenen Immobilienprojekten – Ferienhäuser für dreißig, vierzig, fünfzig Familien, die nicht fertig gebaut in Spanien stehen – ist das ein Zeichen? Will ich nach Spanien? Ich lese weiter und spüre keine Begeisterung. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür. Das sind Visionen für später und so lehne ich mich wieder seufzend wieder zurück, in die Polster in meinem Zug.

In meiner gestrigen Meditation sass mir Zarathustra, ein Meister-Engel, vor meinem inneren Auge gegenüber. Die meisten meiner Meditationen sind in Stille. Manchmal sehe ich mich mit meinen Lehrern. Wie üblich war ein Feuer zwischen uns und über uns ein weiter Himmel. Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen und plötzlich steht er auf und nimmt meine Hand. Ich war überrascht. Seit zwanzig Jahren sitzen wir uns gegenüber und er ist noch nie aufgestanden. Wir gehen gemeinsame ein paar Schritte und dann bemerke ich, dass es keinen Boden mehr unter uns gibt. Wir fliegen, als wenn wir gehen würden. Ich war erstaunt darüber und fragte Zarathustra:
„Wo fliegen wir denn hin?“
„Wir fliegen! Reicht dir das nicht?“ antwortete er.

4 Kommentare
  1. Manu sagte:

    Liebe Sabrina, vor ein paar Minuten kam ich auf diese Seite, zuerst las ich den Text *Erschöpft* und musste schmunzeln. Dieses Wort, dieser Zustand, deine Gedanken waren mir sehr vertraut. nachdem ich in aller Ruhe fertig gelesen hatte, schaute ich mich um und fand diese Gedanken. Neugierig und zustimmend las ich deine Zeilen. Dann kam der Moment in dem ich spürte, dass sich Tränen ihren weg bahnten. Tränen, warum ? Trauer und ein leichtes inneres Seufzen, ach ja ! Ich lese zwischen deinen Zeilen und fühle viel mehr was da mit schwingt. Ich kenne diesen Zustand, bin kurz vor 53, lach und ja auch ich sitze in der letzten zeit häufig in einem Zug. Mir fällt ein, der Zug nach Nirgendwo. Ich danke dir für deine Worte und vielleicht treffen wir uns ja mal an irgendeinen Bahnhof, steigen aus und lachen, finden uns umarmt wieder und sagen, angekommen :-) schönen Tag Manu

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    • Sabrina Fox sagte:

      Liebe Manu, wie alles vergeht auch diese Zeit, mit einem Zug der nicht fährt. Und doch gibt es im Leben – glaube ich – immer wieder Zeiten in denen wir auf diesem Bahnhof stehen und in diesem Zug sitzen. Irgendwann fährt er wieder, aber manchmal braucht es stattdessen ein Fahrrad, manchmal einen Spaziergang… Sei umarmt, Sabrina

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  2. Birgit sagte:

    Bin 63 Jahre alt. Der Text schien von mir geschrieben. Ich sende Emotionen nach Aussen aus. Bin die ERLEDIGER Frau, Tochter, Schwester und Freundin. Ich kann nicht mehr .Es geht mir schon etliche Jahre so. Und niemand kann mit mir reden, möchte nur innere Ruhe. Cortisol kreist nur in meinem Körper. Bin sehr dick geworden. Und taurig. Wie kann man zueinander finden, zwecks, dass ich ein Gegenüber bekomme und das Gefühl habe, da hört EINER zu.Ich bin nicht verrückt.ich kann nicht mehr…….LG Birgit

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    • Sabrina Fox sagte:

      Liebe Birgit, der erste Schritt ist die Erkenntnis: So geht es mir und ich will so nicht mehr leben. Das ist ein wichtiger Schritt – aber eben nur ein Schritt. Jetzt stellt sich die Frage: Wie willst du leben? Dazu braucht es Veränderungen und die Möglichkeit dich mitzuteilen. Eben auch deiner Familie und Deinen Freundinnen. Bist du dazu bereit? Denn wenn du das bist, dann beginnst du mit alten Gewohnheiten aufzuräumen und sie zu verändern und anders, neuer, gesünder zu leben. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber es geht. Ich habe dir dazu noch eine Email geschrieben. Herzlichst, Sabrina

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